+
Meinung | 10. Januar 2015

Wir sind nicht Charlie

Wir sind nicht für die Meinungsfreiheit aufgestanden, als es notwendig war. Wir haben nicht unter Morddrohungen Mohammed-Karikaturen veröffentlicht. Wir haben nicht trotz eines Brandanschlages unsere Arbeit wieder aufgenommen. Wir sind nicht hingerichtet worden, weil wir gemacht haben, was richtig ist: sich nicht einschüchtern zu lassen, seine Meinung auch dort zu vertreten, wo es weh tut, gegen alle Versuche der Unterdrückung durch Terror, Religion oder Gesetz.

Wir setzen unsere Arbeit nicht an der Stelle fort, an der in dieser Woche zwölf Menschen erschossen wurden.

Beschämend ist für mich das reflexhafte Handeln (...) einer Generation, die im Netz allem gedankenlos folgt, was kurzfristig Aufmerksamkeit verdient. Ob da nun #jesuischarlie, »RIP Joe Cocker« oder irgendwas mit #schneegida getwittert wird: es macht keinen Unterschied mehr. Es ist ein tausendfach kopiertes Bekenntnis zu irgendetwas, das für den Moment aktuell ist und ohnehin durch die Timelines rauscht. Und dieses Bekenntnis will in meinem Kopf einfach nicht mehr zu berührender Anteilnahme werden, sondern wird zu dem, was es ist: Eine große Herde der Belanglosigkeiten.
Eine meinung hat jeder und sie muss raus in die Welt, jetzt sofort. Als ob man schockierende Ereignisse nicht erst verarbeiten, als ob man dem Gehirn nicht Zeit geben müsste, sich darüber klarzuwerden, was hier gerade passiert ist, und noch viel wichtiger: Was es bedeutet und welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen. Angst macht nicht der terroristische Angriff auf das französisches Satiremagazin »Charlie Hebdo«, Angst machen die Reaktionen darauf.

Der Feind ist nicht der Islam, der Feind sind wir selber.

Der Feind ist die hysterische Reaktion nach einem Anschlag vor der eigenen Haustür: die vorschnelle Forderung nach mehr Überwachung, nach mehr Polizei, nach mehr Gesetzen, nach Todesstrafe und Rettungsschüssen und Vorratsdatenspeicherung.
Der Feind ist der Reflex zu tun, was der Terrorismus verlangt:
Die Grundwerte der freien demokratischen Gesellschaft in Frage zu stellen.

Der Feind ist nicht der Islam, der Feind sind wir selber.

Die Naiven, die denken, dass ein Like oder Fav die Welt verändern könnte, dass es in den kommenden Wochen und Monaten reichen würde, die eigene Meinung zu twittern. Als ob Twitter der Ort für eine politische oder gesellschaftliche Auseinandersetzung wäre. Der Feind sind die Faulen, deren politisches Handeln nicht über das Anklicken einer Online-Petition hinausgeht, die lieber bloggen als gegen Pegida auf die Straße zu gehen. Der Feind sind die Dummen, die nicht mehr selber denken, die keine Zeitung mehr lesen, die keine Nachrichten mehr schauen, die politisch und gesellschaftlich Uninteressierten, die sich und der Welt keine Fragen mehr stellen. der Feind sind die Nichtwähler, die Nichtdenker, die Nicht-Aufsteher, die Inaktivisten. Der Feind ist die Herde.

Nein.
Wir sind nicht Charlie.
Wir sind nicht mal nah dran.