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Meinung | 19. April 2015

Ein bisschen Mitmenschlichkeit gibt es nicht

Würden wir die europäische Grenze mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge verteidigen, wenn es das Mittelmeer nicht gäbe? Und wenn nicht: Warum sterben dort täglich Menschen?

Das ist die Frage und sie ist zu beantworten. Von uns, von jedem einzelnen Europäer, von jedem Politiker, von jedem Journalisten, von jedem, der der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer zusieht, als ob diese Situation von uns allen keine deutliche Positionierung, kein sofortiges Handeln erfordern würde.

Die Flüchtlinge, sie kommen über das Meer oder ertrinken in ihm. Sie werden auch weiterhin kommen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, und sie werden auf absehbare Zeit wohl nicht weniger, sondern eher mehr werden. Und auch wenn das einige Menschen vielleicht hoffen: Sie werden sich nicht in Luft auflösen.
Wir müssen als Gesellschaft entscheiden, ob wir sie aufnehmen und an unserem Wohlstand teilhaben lassen wollen, für einige Zeit oder manchmal sogar für immer, oder ob wir die Mauern um Europa noch höher ziehen und noch stärker bewachen lassen wollen, in letzter Konsequenz auch mit Waffengewalt, weil es anders nicht gehen wird, weil sich Menschen von Grenzen nicht aufhalten lassen, nicht auf der Flucht, nicht auf der Suche nach einem besseren Leben.

Wir müssen entscheiden, was unser Europa sein soll

Ob Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Solidarität wirklich und mit all den damit verbundenen Konsequenzen zu unseren eigenen und den europäischen Werten gehören. Oder ob es sich nur um hohle Phrasen handelt, die uns Nachts ruhiger schlafen lassen.
Wir müssen entscheiden, ob dieses Europa das vielzitierte gemeinsame Haus sein soll, offen, gastfreundlich und solidarisch, oder doch lieber eine Festung, über deren Mauern nur kommt, wer etwas leisten kann oder ausreichend Geld mitbringt. Und wir müssen entscheiden, ob wir das alles nicht nur als große europäische Idee, sondern auch in der Realität vor der eigenen Haustür und in der eigenen Nachbarschaft haben und leben wollen und was es eigentlich für den Rest der Welt bedeutet, wenn wir es dort ablehnen.

Wir können einfach nicht alle aufnehmen, sagen die Einen schulterzuckend, als ob damit schon das Problem gelöst wäre. Als ob damit irgendein Problem gelöst wäre. Die sind selber schuld, die hätten ja nicht an Bord eines kaputten Schiffes gehen müssen, sagen die Anderen. Als ob die Flüchtlinge an den Küsten von Libyen oder Tunesien die Wahl hätten.

In der Politik diskutiert man währenddessen über die Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern, welches EU-Land wie viele Flüchtlinge aufnehmen kann oder muss, und ob das fair oder unfair ist. Über richtige und falsche Flüchtlinge, über Einwanderungs-gesetze und Asylantragslaufzeiten und Betreuungsschlüssel und wie viele Flüchtlinge für ein Dorf in der Uckermark sozial verträglich sind, damit sich Anwohner in ihren gerade abbezahlten Reihenhäusern noch wohl und vor allem sicher fühlen.

Und während all diese Fragen und Diskussionen wichtig und notwendig sein mögen und man dazu in einer Demokratie sogar unterschiedlicher Auffassung sein kann, ertrinken weiter jeden Tag Menschen im Mittelmeer. Mal sind es am Tag zehn Tote, mal vierhundert, zuletzt waren es über siebenhundert.
Wie viele Fußballfelder füllen siebenhundert Körper?

Wir wissen es nicht, es ist für uns unvorstellbar. Wir haben keine Vorstellung davon. Wir haben das Ausmaß dieser Katastrophe noch überhaupt nicht begriffen.

Aber wenn zu unseren europäischen Werten Mitmenschlichkeit gehört, dann kann diese nicht an den Grenzen Europas aufhören. Dann ist ein Menschenleben ein Menschenleben, Herkunft egal. Dann ist die aktuelle Situation unerträglich und beschämend und mit jedem weiteren Boot, das untergeht, und jedem weiteren Flüchtling, der an unserer Grenze stirbt, stirbt auch ein Stück von Europa. Wenn Mitmenschlichkeit zu unseren Werten gehört, dann ist allen noch notwendigen Diskussionen zum Trotz zu allererst, schnellstmöglich und mit allem erdenklichen internationalen Einsatz das Sterben im Mittelmeer zu beenden.

Ein bisschen Mitmenschlichkeit gibt es nicht.