Eine andere Zukunft
Es ist diese eine Erkenntnis, die am Wahlabend nach den Landtagswahlen in Baden-Würtemberg und Rheinland-Pfalz und in den Tagen danach wie B117 durchs politische Deutschland ballert und von jedem Penis auf zwei Beinen in jede sich nur bietende Kamera gesagt wird: Mehrheiten ohne die Union sind machbar. Möglich. Vorstellbar. Eine Option.
Eine Floskel – eigentlich. Wir leben in einer Demokratie, andere Mehrheiten sind immer machbar, Mehrheiten ohne die Union auch. So hätte der Bundestag die Ehe für alle Jahre vor dem zugegeben genialen Coup von Angela Merkel beschliessen können und doch: Für viele scheint diese Erkenntnis neu und erstaunlich und so steht man verwundert davor als ob man wieder vier Jahre alt wäre und gerade die erste Wunderkerze seines Lebens in der Händen halten würde.
Ganz ohne Wunderkerze, eher leicht verängstigt, aber nicht weniger verwundert, stehen vor den Kameras auch Unionspolitiker, die sich offensichtlich in der Armbeuge von Angela Merkel so gemütlich eingerichtet haben, dass sie in den letzten 16 Jahren zu der Erkenntnis gelangt zu sein scheinen, dass es ohne sie nicht mehr geht in diesem Land.
Politische Verantwortung übernehmen – das bedeutete mal, dass Politiker:innen zurückgetreten sind, wenn sie ihren Job nicht richtig gemacht haben. Die Älteren erinnern sich noch. Und heute? Es wird nicht mehr zurückgetreten. Nicht wegen versenkter Maut-Milliarden und vollkommen verpenntem digitalen Infrastrukturausbau, nicht wegen fragwürdiger Abschiebepolitik oder der Unterdrückung von dringend notwendigen Untersuchungen zu Polizeigewalt oder rechten Netzwerken in Staatsorganen, auch nicht wegen unter allen objektiven Kriterien handwerklich schlechter Pandemiepolitik, dem Versuch Berichterstattung über die eigenen Hauskäufe zu unterbinden oder einer offensichtlich fehlenden Eignung zum Beruf des Politikers, der die Dinge - was auch immer sie sein mögen - eben erklären können muss.
Mehrheiten ohne die Union sind machbar.
Für die einen ein Schreckgespenst, für die anderen ein Versprechen auf die Möglichkeit einer anderen Zukunft. Eine Zukunft, die nach einem Jahr Pandemie und dem Hangeln von Ministerpräsidentenkonferenz zu Ministerpräsidentenkonferenz für uns alle nicht absehbar ist. Klar ist aber - und es will gerade niemand hören, weil wir alle unendlich müde sind - es wird anstrengend werden. Richtig anstrengend.
Uns stehen große Herausforderungen ins Haus: Da ist der Klimawandel mit allem, was er mit sich bringen wird, da ist eine bestenfalls angefangene Energiewende, da sind all die Folgen dieser Pandemie, eine sicherlich kommende Welle von Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Verwerfungen, die ohne weitsichtiges politisches Handeln zu noch größerer sozialer Ungleichheit führen wird, da ist eine ganze Generation von Kindern mit Lerndefiziten, die unser marodes Bildungssystem nicht auffangen können wird und dann sind da noch all die anderen viel beschworenen Lehren, die aus dieser Pandemie dann irgendwann mal gezogen werden müssten, weil Corona eben gezeigt hat, wie es um Bürokratie, Digitalisierung, Bildung, Gleichberechtigung, Gesundheitssystem und einen insgesamt zukunftsfähigen Staat und seine Sozialsysteme steht. Gar nicht mal so gut.
Alles in einem Europa, das nicht gerade den stabilsten Eindruck macht und an dessen Außengrenzen immer noch Tag für Tag Menschen sterben.
Und dann könnte man ja vielleicht auch nochmal kurz zu diesem Moment aus 2020 zurückkehren, wo viele diese Krise auch als Chance begreifen wollten und es dann doch nicht gemacht haben. Warum nicht unsere Innenstädte mal neu denken und aus Parkplätzen Radwege machen, aus Gewerbeimmobilien Wohnraum? Warum nicht darüber reden, ob Homeoffice und digitaler Unterricht nicht die Regel sein sollten und nicht die Ausnahme? Warum nicht darüber nachdenken, ob das, was in diesem Land alles einfach so gemacht wird, weil es schon immer so gemacht wurde, eigentlich noch richtig ist.
Was jetzt, Herr Internetikone?
Auch, wenn an dieser Stelle viele längst raus sind, und sich noch mehr im nächsten Satz verabschieden werden, er ist wichtig: Das alles wird ohne SPD nicht gehen. Eine SPD mit der man zu Recht große Probleme und Bauchschmerzen haben kann. Einem Kanzlerkandidaten, dem man die Abkehr von Hartz4, die Einführung einer Vermögenssteuer, die Erhöhung des Mindestlohn auf 12 Euro, einen gerechten Umbau der Sozialsysteme und ein Tempolimit irgendwie (noch) nicht so ganz abnehmen möchte.
Ich verstehe es ja, wählt ihn halt nicht zum Kanzler, aber die beliebte Volkssportart SPD-Bashing wird höchstens die Union retten, aber nicht unsere Zukunft.
Wer ernsthaft glaubt, dass die Union mit Leuten wie Laschet, Söder, Seehofer, Scheuer, Spahn und Merz in der Zeit nach Merkel Ideen für eine bessere Zukunft entwickeln wird, der ist - mit Verlaub, liebes Internet - ein Idiot. Das ist auch nicht Aufgabe einer konservativen Partei. Aufgabe einer konservativen Partei ist es, den Status quo zu erhalten. Und naja, wie soll ich es sagen, Corona hat doch irgendwie sehr deutlich gemacht, dass der Status quo an allen Ecken und Enden gar nicht mal so super ist, wie sich Deutschland seit Jahrzehnten eingeredet hat.
Jetzt werden viele "Ja, aber die SPD..." oder "Ja, aber die Linke..." oder "Ja, aber die Grünen..." oder sogar "Ja, aber die FDP..." sagen, weil "Ja, aber..." sagen die größte Errungenschaft links von der Mitte ist, weil sie Diskussion und Auseinandersetzung und Austausch und Streit bedeutet, weil die Idee einer anderen Zukunft immer ein Tasten im Dunkeln ist, in dem Fehler gemacht werden und die Dinge nicht gleich so laufen, wie man sich das vielleicht gewünscht hätte, ganz egal wie gut die Idee oder Intention war. Wir sollten das endlich als Stärke begreifen. Wer Visionen hat, sollte in die Politik gehen, nicht zum Arzt. Wir sollten den Streit feiern. Die bessere Idee. Überhaupt mal wieder Ideen. Was wir brauchen, ist eine Öffnungsstrategie für Gehirne.
Politik muss wieder das werden, was sie gerade leider nicht ist: Lernfähig. Und gleichzeitig ist Politik immer ein Kompromiss und gerade vorwärts gewandte Politik macht immer auch Fehler, weil sie eben nicht einfach nur weiter so macht. Das ist der Normalzustand.
Wir alle, die die letzten Monate - ach, Jahre - damit verbracht haben, uns in Jogginghose über all die jetzt nochmal durch Corona an die Oberfläche gespülten Probleme aufzuregen, sollten die Kleinkriege aufgeben und endlich anfangen an einem Strang zu ziehen. Wir müssen diese Chance begreifen. Mehrheiten ohne die Union sind machbar. Das geht nicht, ohne den einen oder anderen inneren Widerstand aufzugeben, von der einen oder anderen harten Position zugunsten des großen Ganzen abzuweichen. Und ja, so hat Jens Spahn es zwar nicht gemeint, aber in der Tat: Wir müssen uns auch ein Stück weit die Vergangenheit verzeihen und nicht ständig diese billigen "aber ihr habt doch damals"-Karten spielen. So kommen wir nie voran. Jens Spahn hingegen muss man nicht verzeihen, den kann man einfach auch abwählen.
Eine andere Zukunft
Niemand weiß, was in den nächsten Monaten passiert, wie schlimm die Dinge noch werden oder ob es doch noch Karl Lauterbachs Jahrhundertsommer wird. Für den Moment jedenfalls wackelt die Union kräftig und eine progressive Mehrheit ist mit fehlenden 2% in überraschend greifbare Nähe gerückt. Wir sollten diese Möglichkeit alle zusammen nicht leichtfertig verspielen. Nicht durch unnötige Grabenkämpfe, nicht durch die allgegenwärtige (verständliche) Müdigkeit, nicht durch eine sicher nicht ganz unberechtigte Politikverdrossenheit.
Eine andere Zukunft ist vorstellbar, aber wir müssen jetzt dafür kämpfen.