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Versuche in 140 Zeichen

Mutmaßungen über einen Kurznachrichtendienst

Worte suchen ein Zuhause.(25 Zeichen.)

Vergessen Sie alles, was Sie bisher gelesen haben, vergessen Sie alles, was Sie noch lesen werden. Vergessen Sie, was Sie gehört haben, was Ihnen der Mann aus der Tagesschau erklärt hat, was in einer Fachzeitschrift stand oder man Ihnen auf einem Kongress versucht hat zu demonstrieren.

Glauben Sie niemandem. Es ist alles nur Quatsch.

Die restlichen Erdnussflips frier ich einfach ein.(50 Zeichen.)

Wir wissen es doch auch nicht, wir üben noch. Wir haben immer geübt, von Anfang an, wir wissen bis heute nicht ganz genau, was wir hier machen und warum eigentlich. Wir haben keine Erklärungen, wir haben es selbst nicht verstanden, niemand hat es verstanden. Vielleicht haben wir eine Ahnung, eine Vorstellung, eine Idee vielleicht, oder vielleicht sogar nur die Idee einer Vorstellung, aber wahrscheinlich nicht mehr.

Vielleicht haben wir auch ein Konzept, vielleicht hatten wir früher mal ein Konzept, aber das geht im Grunde niemanden etwas an. Wenn Sie deswegen hier sind, wenn Sie hier sind, weil Sie es verstehen wollen, weil Sie das alles einmal generell, grundlegend und abschließend verstehen wollen, sind Sie hier falsch, da können wir Ihnen auch nicht helfen, das Geld hätten Sie sich sparen können. Es tut uns leid. Nein, es tut uns nicht leid. Wir sind ja nicht wegen Ihnen hier.

Das ist schon das erste Missverständnis, das ist der erste große Irrglaube, den haben Sie hier angeschleppt, der stammt aus Ihrer eigenen Vorstellung, Ihrer eigenen Erwartungshaltung. Dass man hier für Sie schreiben würde. Aber da müssen wir Sie enttäuschen, denn hier geht es nicht um Sie, hier geht es, wenn es denn um irgendwen geht, zunächst mal um uns.

Horst, Hund und Brodt sind der totale Geheimtipp.(49 Zeichen.)

Hier geht es auch nicht um Kommunikation, das kann man an dieser Stelle auch gleich mal sagen, damit es da keine Missverständnisse gibt. Diese unsägliche Vorstellung vom sogenannten sozialen Netzwerk, eine totale Verirrung der Neuzeit, eine komplette Fehldarstellung der Medien, die Ihnen vielleicht der Mann in der Tagesschau eingeredet hat, als ob es hier wirklich um soziale Interaktion gehen würde, um tatsächliche Netzwerke, um Zwischenmenschlichkeiten oder Kontakte, Diskussionen oder inhaltliche Auseinandersetzungen. Wir haben Sie zu nichts von alledem eingeladen und haben das auch in Zukunft nicht vor. Sie sind hier nur zu Besuch, nein, nicht einmal das, Sie sind hier nur Zuschauer. Ihre Meinung interessiert uns nicht, Ihre Ansichten interessieren uns nicht, Ihre Lebenslagen interessieren uns nicht, Ihre Hobbys sind uns egal, behalten Sie all das für sich, nicht mal Ihr Humor interessiert uns, außer es ist unserer, denn hier geht es nur um uns.

Selbstbild als Tonspur.(23 Zeichen.)

Sie müssen sich hier natürlich etwas anderes einbilden können, das macht den Erfolg dieser Unternehmung am Ende aus. Sie müssen sich eingebunden fühlen und informiert und gewollt und geliebt und berührt und sich irgendwie wiederfinden, in dem, was Sie hier lesen, aber das war nie unsere Intention, von Anfang an nicht und auch jetzt nicht und sollten Sie sich selbst hier und jetzt bereits wieder geliebt oder gewollt oder berührt fühlen, dann tut es uns leid, auch das war nie unsere Absicht. Wir wollen Sie in dieser Sache nur ungern anlügen, aber jede Form von Verbundenheit, Mitgefühl oder Gesellschaft, was auch immer diese Worte für Sie bedeuten, Sie bilden sich das alles nur ein, hier geht es wirklich nur um uns, einzig und allein um uns, das sollten Sie uns an dieser Stelle wirklich mal glauben, sonst werden Sie das alles hier nie verstehen.

Gott kündigt Reformpaket an.(28 Zeichen.)

Hier geht es auch nicht um Information oder irgendeine wirkliche Form von Relevanz, auch das ist nicht unsere Aufgabe, nicht hier. Wir schreiben hier keine Nachrichten für Sie oder irgendwen, wir sind kein Nachrichtensender, kein Multiplikator, kein Infostand, wir wissen nichts, was Sie unbedingt wissen müssten und selbst wenn, würden wir es Ihnen nicht zwangsläufig mitteilen. Wir schreiben nicht einmal unbedingt immer die Wahrheit, auch nicht zwangsläufig über die Wirklichkeit. Wir übertreiben, wir verdrehen, wir lügen Sie an, wir erfinden Geschichten. Wir reihen Wörter aneinander, wir sind nur eine weitere Verzerrung der Realität. Wir machen nur Quatsch, wir verschwenden nur Ihre Zeit.

Ich verstehe nichts von Literatur, ich kenne nur ein paar gute Worte.(69 Zeichen.)

 

Hier geht es auch nicht um Literatur, lassen Sie sich da bitte nichts einreden, nicht mehr jedenfalls als es an einem Eckkneipentresen um Poesie gehen könnte, und das ist in der Regel auch eher ein glücklicher Zufall. Dieser eine magische Moment, wenn die Abendsonne tief steht und bierfarben durch die ungeputzten Scheiben dringt und der faltige Mann am Ende der Theke zwischen zwei Zigarettenenzügen den einen vollkommen aus dem Zusammenhang seiner eigenen Gedanken gerissenen Satz in die Stille des Raumes wirft, den einen großartigen Satz, der alles sagt und auch wieder nichts, der seinen eigenen Moment schafft, in seiner eigenen Zeit, einen kurzen Augenblick der Poesie im Elend der Tage zwischen schwebenden Staubpartikeln, Bierdeckeln und Zigarettenqualm. Dann, und nur dann, in diesem einen Moment, findet sich Poesie an Orten, wo sie sonst nichts verloren hat, und nur dann entsteht hier Literatur, oder das, was man vielleicht dafür halten könnte.

Menschen kommen und gähnen, ein Hund läuft vorbei.(51 Zeichen.)

Um diesen einen Moment ging es hier mal, ihn einzufangen und zu beschreiben, ihn festzuhalten, zu konservieren. Um die Verdichtung der Worte, die Kompression der Geschichten, die einhundertvierzig Zeichen, in die plötzlich alles passen musste. Der Moment, das Gefühl, die Poesie, die Gesamtsituation.

Im frühen Blau der Tage rauscht das Gas, schlagen Blasen in der Milch die Häute hoch; man steht und schweigt und wartet auf den nächsten Tod(140 Zeichen.)

Es ging um die Faszination für den begrenzten Raum in einer Zeit, in der der digitale Raum längst unendlich geworden ist. In einer Zeit, in der sich alles endlos aneinander reiht und zu einer unförmigen Masse voller Beliebigkeiten verschmilzt, zu einem großen digitalen Rauschen in einem Ordner auf einer Festplatte in einem Computer hier oder irgendwo auf der Welt, zu einer beliebig langen, endlosen Timeline, in der die Existenz des einzelnen dokumentierten Moments letztlich egal und überflüssig wird, weil darüber und darunter schon eine Sekunde später sehr Ähnliches stehen wird.

Die Stadt trug die Laternen auf den letzten Metern allein, niemand sang ihre Lieder.(84 Zeichen.)

Aber der Schwarm ist erbarmungslos. Und sobald man ein Teil von ihm wird, verändert er das eigene Schreiben, die eigene Syntax, saugt einen auf, assimiliert das eigene Gehirn. Man unterwirft sich seinen Regeln, man fängt an mitzuspielen im großen Rennen um die digitale Aufmerksamkeit der Masse an den Empfangsgeräten. Und plötzlich geht es nicht mehr um den einen großartigen Moment und dessen Konservierung, sondern um Reichweite und Leserzahlen, darum, welcher Text funktioniert und welcher Text eben nicht funktioniert. Es geht auch um Anerkennung, ja, oder jedenfalls das, was in diesem Universum als Anerkennung gilt: Klicks und die endlose Wiederholung der eigenen in die Welt entlassenen Pointen und Pseudo-Weisheiten.

Relevant möchtet ihr sein.(26 Zeichen.)

Man wird schnell süchtig nach dieser Form der unmittelbaren Anerkennung, es ist ein bisschen widerlich, wenn man genauer darüber nachdenkt. Dabei ist der Effekt längst wissenschaftlich erforscht, man hätte es wissen können.

Ich habe gekocht. Es gibt viertausendachthundervierundneunzig mögliche Pointen und am Ende ist alles kalt.(106 Zeichen.)

Der Versuch ist also gescheitert, wir sind der Versuchung erlegen. Am Ende schreiben wir alle die gleichen Geschichten, die gleichen Pointen, die gleichen Konstruktionen, reihen uns ein in den endlosen Strom von Belanglosigkeiten und der großartige Moment, um dessen Verdichtung, Kompression und Konservierung sich ursprünglich alles drehen sollte, ist wieder das, was er eigentlich immer schon war: flüchtig.

Am Ende wird alles Kunst oder Zynismus.(39 Zeichen.)

Denn hier geht es, wenn man das mal so sagen darf, im Wesentlichen um Masturbation unter Beobachtung der Öffentlichkeit, eine experimentelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, ein Abarbeiten an der Welt mit sprachlichen Mitteln, eine chaotische Katalogisierung von Gedankengängen, ein zynisches Ausschlachten des eigenen Lebens, fremder Leben, des Lebens an sich, zu Zwecken der Selbstdarstellung oder einer psychischen Bewältigung, eine Aufarbeitung der Realität mit humoristischen Mitteln, aber es geht eben, wenn es überhaupt um etwas geht, am Ende des Tages in erster Linie um uns und um die Befriedigung eigener Bedürfnisse, unserer Bedürfnisse, vielleicht auch nur des einen übergroßen Bedürfnisses unserer Zeit überhaupt, die Befriedigung des Mitteilungsbedürfnisses. Das ist es. Wahrscheinlich nicht mehr.

Ich habe meinen Turnbeutel gegessen.(36 Zeichen.)

Ich habe mein Seepferdchenabzeichen von eBay.(45 Zeichen.)

Ich bin die Plastiktüte aus American Beauty.(44 Zeichen.)

Ich bin alle traurigen Gesichter von Bill Murray.(49 Zeichen.)

Am Ende wissen wir eben auch nicht mehr so genau, was wir hier eigentlich machen, wir haben keine Erklärungen, wir haben es selbst nicht verstanden, wir üben noch immer.

Und wie es nun für Sie selbst gehen könnte, dieses Schreiben in einhundertvierzig Zeichen, wir wissen es auch nicht, und es gibt auch nur einen einzigen Weg es herauszufinden. Sie müssen sich hinsetzen, vor einen Computer oder ein mobiles Endgerät, auf ein Klo, in ein Bett, in eine U-Bahn oder eine Wohnzimmerlandschaft und müssen dort sitzen, vielleicht sogar liegen, bis sich ein Gedanke formuliert, ein Satz bildet, ein Wort oder eine Idee von etwas, irgendetwas jedenfalls, das eben jenes einhundertvierzig Zeichen große Eingabefeld mit Worten füllen könnte, und dann tippen Sie diese ein und senden sie ab und schon geht es los.

(Hier endlose Weite einfügen.)(30 Zeichen.)

Das war gelogen. Nichts geht los, überhaupt nichts. Die Worte stehen im luftleeren Raum, der Strom aus Nachrichten reißt sie lautlos mit sich und nichts weiter passiert. Vorerst. Außer vielleicht in Ihnen. Vielleicht befriedigt Sie die Vorstellung, dass dieser eine Gedanke jetzt in der Welt ist, vielleicht beruhigt es sie auch. Vielleicht ist es nur eine Notiz gewesen für später, vielleicht eine Ablenkung vom Leben, vielleicht nur ein Wortspiel, ein Zitat oder eine gute Formulierung. Vielleicht werden Sie an diesem Punkt verstehen, wieso es an erster Stelle nur um Sie selbst geht, um Ihre Ideen, um Ihre Vorstellungen, um Ihre Art einhundertvierzig Zeichen zu füllen.

Vielleicht hat das, was Sie geschrieben haben, auch jemand gelesen und es hat irgendwem am anderen Ende der Welt oder am anderen Ende der U-Bahn oder auf der anderen Seite der Klotür etwas bedeutet, vielleicht hat jemand darüber gelacht, staunend davor gesessen, oder es in diesem einen Augenblick genauso gesehen wie Sie, vielleicht hat es ein Leben verändert, einen Unfall verursacht, eine Beziehung gerettet oder vielleicht nichts von alledem.

Aber vielleicht, ganz vielleicht, haben Sie die Welt, oder auch nur einen sehr kleinen Teil davon, für einen kurzen Moment angehalten, bevor alles wieder im digitalen Rauschen verschwunden ist.

Ein wirklich großartiger Tweet hält alles einen Moment an.(58 Zeichen.)

Glauben Sie niemandem. Es ist alles nur Quatsch.
Reißen Sie das Internet aus der Wand.
Verbrennen Sie Ihren Computer.
Lesen Sie ein gutes Buch.
Trinken Sie eine Flasche Wein.
Essen Sie ein Stück Kuchen.
Laden Sie Freunde ein.
Verfrühstücken Sie die Tage im Bett.
Gehen Sie an einem sonnigen Frühlingstag spazieren.
Springen Sie in eine Pfütze.
Lassen Sie einen Drachen steigen.
Bewahren Sie Ihre Momente.
Atmen Sie ein.
Wundern Sie sich.

Das ist das Leben, der Rest ist nur Ablenkung.

Auf der Metaebene brennt noch Licht.(36 Zeichen.)

Erstmals erschienen in:
Stephan Porombka u.a. — Über 140 Zeichen
Erhältlich als eBook im Frohmann-Verlag