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Meinung | 26. März 2021
Jugend forscht

Jugend forscht

Karl Lauterbach hat recht. Wir müssen nicht wie bei Jugend forscht ausprobieren, was in einem Bundesland wie dem Saarland passiert, wenn man unter dem vorgeschobenen Argument "Modellversuch" Lockerungen in einer Situation durchführen will, in der die Infektionszahlen absehbar durch die Decke gehen, das RKI vor 100.000 Infektionen am Tag und Bundesgesundheitsminister (...) Jens Spahn sich selber vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems im April warnt.

Wo er hingegen nicht recht hat: Natürlich brauchen wir Modellversuche. Und wir brauchen sie jetzt. Nicht für schnellstmögliche Lockerungen, sondern für unsere Zukunft. Eine absehbare Zukunft, in der wir trotz aller aktuellen Langsamkeit bei der Impfung irgendwann ausreichend große Teile der Bevölkerung geimpft haben werden und wir ein gewisses Maß an Lebensqualität wiederherstellen wollen und müssen. Verantwortlich, sicher und mit allem Respekt vor diesem Virus, das eben nicht morgen verschwinden wird, auch nicht mit ZeroCovid oder NoCovid-Strategien, sondern das uns wohl mit all seinen Mutationen noch lange begleiten wird.

Wir müssen ausprobieren, wie Arbeit, Bildung, Kultur – Leben ganz allgemein - sicher funktionieren können, wenn einige Menschen geimpft, aber wohl immer noch ansteckend und damit eine Gefahr für andere sein werden, während andere immer noch auf ihre Impfung warten. Bei Mutationen, die ansteckender sind als im letzten Sommer. Das stellt Kultur- und Bildungseinrichtungen, Gastronomie, Arbeitgeber, Nah- und Fernverkehrsmittel, ja eben alle Bereiche des öffentlichen Lebens vor große, bislang nicht gekannte logistische Herausforderungen, zu denen niemand bisher Erfahrungen sammeln konnte. Wir wissen ein Jahr nach Beginn dieser Pandemie immer noch erschreckend wenig.

Wie geht das also eigentlich in Zukunft: Ein Konzert mit tausend Besuchern. Was bedeutet das für den Personalbedarf, wenn ich am Eingang alle Besucher testen muss. Was bedeutet das für die zeitlichen Abläufe? Wie organisiert man eine Testung im Vorfeld? Wie verhalten sich Menschen in so einem Modellversuch? Welche räumlichen, ja vielleicht sogar architektonischen Änderungen sind notwendig? Welche Auswirkungen haben all diese Maßnahmen auf die Kosten und damit auf die Ticketpreise. Damit wir Veranstaltungsorte nicht nur wieder öffnen, sondern sie auch wirtschaftlich unabhängig von staatlichen Subventionen funktionieren können. Und welche staatlichen Förderprogramme sind jetzt nötig, um Umbaumaßnahmen und notwendige Umstrukturierungen überhaupt planbar und möglich zu machen. Und wie geht all dies auch in kleineren Locations, die naturgemäß ganz andere wirtschaftliche und räumliche Möglichkeiten mit sich bringen?
Um nur ein Beispiel von vielen notwendigen zu nennen.

Optimismus ist nur ein Mangel an Information?

Uns fehlen an dieser Stelle nicht nur die Erfahrungswerte. Uns fehlen - von wenigen schon stattgefundenen Modellversuchen abgesehen - auch die wissenschaftlichen Daten. Deswegen bedeutet Modellversuch eben auch nicht Lockerung. Ein Modellversuch muss auch mehr sein als nur ein Konzept mit Teststrategie. Ein Modellversuch muss wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, damit wir rausfinden: Was geht, wo und wie geht es und was geht eben auch nicht. Es kann bei einem Modellversuch auch nicht um Datensparsamkeit gehen, sondern ganz im Gegenteil, ein Versuch muss so viele Daten wie möglich erheben, damit daraus ein belegbarer wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn entstehen kann. Anonymisiert, pseudonymisiert und unter Beachtung von Datenschutz und Persönlichkeitrechten.
Und auch das gehört zur Wahrheit: Ein Modellversuch hat freiwillige Teilnehmer:innen, keine Versuchskaninchen. Ein Versuch hat immer auch Risiken und Nebenwirkungen. Von der potentiellen Ansteckung bis zum Abhandenkommen persönlicher Daten und über diese ist aufzuklären und alle Teilnehmer:innen müssen sich damit einverstanden erklären. Ein Modellversuch braucht eine Evaluation im Nachhinein, die nicht einfach nur bedeuten kann: Wir gucken dann mal, ob sich dieser Versuch irgendwie in den zufällig erhobenen allgemeinen Infektionszahlen wiederfinden lässt.

Wir brauchen diese Versuche jetzt, damit diese absehbare Zukunft schnellstmöglichst Realität wird und wir nicht wieder im Sommer, im Herbst, im Winter darstehen und uns gegenseitig erzählen, was wir alles vor Monaten mal hätten vorbereiten müssen, wie wir es gerade bei den Schnelltests erleben.

Karl Lauterbach hat kürzlich gesagt, dass er bei der zugegeben quatschigen Diskussion um die sog. Osterruhe die Dinge lieber vom Ende her denken wollte, damit die Menschen mal wieder ein dringend benötigtes Erfolserlebnis haben. Mein vom Ende her gedachtes Erfolgserlebnis wäre die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, dass ich unter bestimmten Rahmenbedingungen irgendwann wieder guten Gewissens und angstfrei in einer Menschenmenge stehen und zusammen mit anderen Menschen das Leben feiern kann.

Das würde mir für den Moment als Perspektive schon reichen.